Eine dritte Impfdosis – rational und solidarisch entscheiden

Die Diskussion um eine dritte Impfdosis ist im Gange. Sie muss rational geführt werden und Entscheidungen müssen gut begründet werden. Zwei Argumente stehen hier gegeneinander: die potentielle Verbesserung des Impfschutzes gegen die Delta-Variante und die globale Verteilung von Impfdosen. Diese Argumente wollen wir in diesem Beitrag beleuchten.

Wie sind Antikörpertiter und Impfschutz verknüpft?
Für die meisten Impfungen gibt es einen Zusammenhang zwischen Schutz gegenüber der jeweiligen Infektion und dem durchschnittlichen nach der Impfung erreichten Antikörpertiter– je höher der Titer, desto besser der Schutz.
Für die Delta-Variante ist der Schutz gegen eine Infektion mit allen bisherigen Impfungen schlechter, die Gefahr von Durchbruchinfektionen ist höher. Hinzu kommt ein über die Zeit abnehmender Antikörpertiter. Durch Impfung erzeugte Antikörper neutralisieren im Reagenzglas zudem Delta-Virusstämme schlechter, dies korreliert mit der höheren Rate von Delta-Durchbruchinfektionen– aber wie gut ist hierzu unser Wissen und damit die Entscheidungsgrundlage?
Die direkte Korrelation von Schutz und Antikörpertiter wurde für COVID-19 bisher für keinen Impfstoff gezeigt. Eine individuelle Aussage zum Schutz kaum möglich, wir wissen auch nicht, wie der Schutz sich ändert, wenn Antikörpertiter im Verlauf abfallen. Eine Hepatitis B-Impfung z.B. kann auch dann noch eine Schutzwirkung zeigen, wenn keine Antikörper mehr messbar sind.
Noch komplizierter wird es beim wichtigsten Impfziel: dem Schutz vor einem schweren oder gar tödlichen Verlauf. Hier zeigen fast alle Impfstoffe, auch solche mit einem eher niedrigeren Schutz vor einer leichten Infektion (z.B. Sinopharm), eine sehr gute Schutzwirkung; und dies fast unverändert auch gegenüber der Delta-Variante. Hier ist offensichtlich die Verbindung zwischen Antikörpertiter, auch neutralisierendem Titer und Schutz sehr viel weniger eng. Hier könnte der wichtigste Schutz die zelluläre Immunität sein, deren Messung ist aber kompliziert und zudem schlecht standardisiert.

Was sind Argumente für eine weitere Impfdosis?
Alte Menschen zeigen für fast alle Impfungen eine schlechtere Immunantwort als jüngere. Untersuchungen zeigen, dass Antikörpertiter bei älteren und sehr alten Geimpften rasch abfallen. Personen ab dem 80. Lebensjahr haben ungeimpft ein sehr hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf von COVID-19, etwa 20% von ihnen versterben. Eine Durchbruchinfektion verläuft generell milder, aber auch eine Reduktion der Mortalität von 50 oder 70% bedeutet in dieser Altersgruppe ein hohes Krankheitsrisiko. Das Risiko ist auch für Patienten mit einer dauerhaften Immunsuppression hoch, durch Kortison oder andere Medikamente, die die Immunabwehr schwächen. Zwei Impfdosen haben initial bei den Älteren einen hohen, bei den Immunkompromittierten zumindest einen begrenzten Schutz bewirkt. Eine dritte Dosis erhöht die Antikörpertiter. Dies legt nahe, dass eine dritte Impfung in dieser Gruppe vermutlich eine zusätzliche Schutzwirkung erreichen könnte – aber aussagekräftige Studien gibt es hierzu nicht. 

Was spricht nicht für eine dritte/weitere Impfdosis?
Für viele Menschen (unter 50J? unter 60J?) wird eine dritte Impfdosis vielleicht einen etwas besseren Schutz vor einer Infektion bringen – eine erneute Impfung kann aber kaum einen noch besseren Schutz vor einer schweren Erkrankung bewirken. Und eine dritte Impfdosis wird vermutlich auch nicht den Bevölkerungsschutz (die Herdenimmunität) verbessern. Für die anlaufende Delta-Welle kommt sie vermutlich auch zu spät. Eine weitere Impfdosis kann nur Menschen gegeben werden, die schon zwei Dosen (oder eine nach Impfung von Johnson & Johnson) erhalten haben, naturgemäß werden die Zögerer und Verweigerer nicht erreicht.

Was spricht gegen eine (jetzige oder baldige) weitere Impfdosis?
Impfungen benötigen Ressourcen, Personal und Material. Impfdosen sind weltweit knapp, in vielen Ländern sind die Impfquoten sehr niedrig. Eine Pandemie ist kein Problem, das lokal lösbar ist. Wir haben gerade die Impfung für die Altersgruppe von 12-17 Jahren empfohlen. Und in den höheren Altersklassen sind noch viele Impflücken, z.B. bei benachteiligten Personen oder Gruppen zu schließen, ein ressourcenintensives Unterfangen.

Was machen wir mit verfallenden Impfdosen?
Nachrichten von in Praxen und Apotheken verfallenden Impfdosen geben in dieser Situation falsche Signale. Nicht Überfluss ist das Problem, sondern organisatorisches Versagen in der Verteilung von Impfdosen. Global herrscht dramatische Knappheit in vielen Regionen. Lagerung und Verteilung des kostbaren Impfstoffs müssen rasch besser organisiert werden. Eine dritte Impfung für Menschen mit einem hohen Risiko für schwere Krankheitsverläufe ist kein Grund weitere Impfdosen an Menschen außerhalb dieser Risikogruppen breit zu verteilen.

Fazit:
Eine dritte/weitere Impfung könnte für bestimmte Risikogruppen, wie zum Beispiel sehr alte Menschen über 80 Jahre einen Vorteil bedeuten. Auch wenn hierfür bisher keine ausreichende Evidenz vorliegt, könnte man solchen Gruppen eine dritte Impfung mit der Begründung anbieten, dadurch ein erhöhtes Risiko für schwere Krankheitsverläufe zu verringern. Wir empfehlen, dass solche Maßnahmen in jedem Fall von Studien begleitet werden sollten, welche die Impfantworten und das tatsächliche Risiko schwer verlaufender Infektionen dokumentieren, um so die Effektivität einer dritten Impfung in den unterschiedlichen Risikogruppen zu bewerten.
Für alle anderen, und das bedeutet für den Großteil der Bevölkerung gibt es derzeit keine Evidenz für einen zusätzlichen Nutzen einer weiteren Impfdosis. Auch die STIKO empfiehlt diese bisher nicht. Das heißt, dass wir unsere Ressourcen darauf fokussieren sollten, die bisher nicht erreichten Personen zu impfen.
Darüber hinaus erfordert die globale Bekämpfung der Pandemie, die weltweit vorhandenen Impfstoff-Ressourcen rational und solidarisch einzusetzen. Es liegt in unserer Verantwortung, die globale Impfkampagne nicht zu bremsen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass weltweit möglichst vielen Menschen die notwendigen Impfdosen und die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Für weitere Informationen verweisen wir auch gerne auf das lesenswerte Editorial in der Zeitschrift Lancet Infectious Diseases vom 12. August 2021 (https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(21)00486-2/fulltext).

 

Stellungnahme als PDF zum Download